StartGeschäftPerfekt geplant, wirkungslos umgesetzt – Was deutsche OEMs von China lernen müssen

Perfekt geplant, wirkungslos umgesetzt – Was deutsche OEMs von China lernen müssen

Perfektion gilt in deutschen Industrieunternehmen oft als Maßstab für Qualität – besonders bei OEMs. Doch während Lastenhefte gefüllt, Prozesse feinjustiert und Szenarien durchgespielt werden, drängt der Markt mit rasanter Geschwindigkeit voran. Vor allem chinesische Hersteller setzen längst auf pragmatische Umsetzung, enge Nutzerorientierung und schnelle Iteration. Der Anspruch, alles im Voraus abzusichern, wird so zum strategischen Nachteil. 

Wer im globalen Wettbewerb bestehen will, muss lernen, schneller zu handeln – auch wenn nicht jede Variable vorab kontrolliert ist. Entscheidend ist nicht mehr, wie gut ein Projekt geplant ist, sondern wie schnell es beim Kunden Wirkung entfaltet.

Planung als Kult – Warum deutsche OEMs im eigenen Anspruch scheitern

Wer zu lange plant, verliert den Moment. Genau dieses Muster zeigt sich bei vielen deutschen OEMs, deren Projekte zwar durchdacht, aber oft zu spät am Markt sind. Während Wettbewerber längst mit ersten Versionen beim Kunden testen, stecken Entwicklungsabteilungen hierzulande noch in internen Abstimmungsschleifen. Der Glaube an das perfekte Produkt und das Bedürfnis nach lückenloser Planung führen zu Verzögerungen, die in der Praxis kostspielig werden. Zwischen Anspruch und Realität öffnet sich eine Lücke, die mit jedem Meeting größer wird.

Planung wird zum Kult, zur scheinbar unantastbaren Disziplin. Doch je länger geprüft, validiert und reguliert wird, desto weniger bleibt vom eigentlichen Vorsprung, den deutsche Technik einmal hatte.

Überregulierung und Entscheidungsstau

Regelwerke und Genehmigungsprozesse haben ihre Berechtigung – keine Frage. Doch wenn Regularien zum Selbstzweck werden, lähmen sie Projekte statt sie zu sichern. Viele OEMs verlieren wertvolle Zeit in regulatorischen Zyklen, die längst nicht mehr im Verhältnis zum Projektrisiko stehen. Entscheidungen, die früher in wenigen Tagen getroffen wurden, wandern heute durch Gremien, Freigaberunden und juristische Prüfpfade.

Der Wunsch nach Absicherung mündet so oft in einem echten Entscheidungsstau. Führungskräfte delegieren Verantwortung nach unten, Fachbereiche sichern sich nach oben ab. Verantwortung verteilt sich, aber sie wird nicht übernommen. Genau das führt zu einer Kultur der Verzögerung – in der Geschwindigkeit zur Gefahr und Vorsicht zum Führungsprinzip wird.

Absicherung statt Umsetzung

Perfektion wird nicht selten höher bewertet als Marktfähigkeit. Viele Produkte sind fertig gedacht, bevor sie jemals in einem realen Nutzungskontext getestet wurden. Das führt dazu, dass wertvolle Marktimpulse nicht frühzeitig in die Entwicklung zurückfließen, sondern erst nach dem Launch auftauchen – wenn es teuer wird. Zwischen Planung und Umsetzung entsteht eine operative Lücke, die sich mit jeder neuen Absicherungsrunde vergrößert.

Statt schrittweise zu entwickeln, zu testen und zu korrigieren, zielen viele OEMs auf den einen großen Wurf – und nehmen dafür monatelange Stillstände in Kauf. Veränderungen während des Prozesses werden als Risiko gesehen, nicht als Teil der Lösung. Wer so arbeitet, verliert nicht nur Tempo, sondern auch Flexibilität. Umsetzung wird zur letzten Phase – statt zum fortlaufenden Teil der Entwicklung.

Wenn Komplexität zur Ausrede wird

Komplexität gehört zur Industrieentwicklung – das ist unbestritten. Doch in vielen Fällen wird sie zur bequemen Ausrede, um Veränderung aufzuschieben. Aussagen wie „Das ist bei uns nicht so einfach“ oder „Unsere Branche funktioniert anders“ gehören längst zum Standardrepertoire, wenn es darum geht, neue Wege nicht zu beschreiten. Komplexität wird nicht gelöst, sondern gepflegt.

Diese Haltung verhindert nicht nur Fortschritt, sondern senkt auch die Risikobereitschaft im Unternehmen. Statt Prozesse zu vereinfachen, werden sie weiter verschachtelt. Statt klare Entscheidungen zu treffen, wird weiter analysiert. So entsteht eine Art Komplexitätskultur, die sich selbst bestätigt. Wer das durchbrechen will, braucht nicht mehr Technik – sondern einen anderen Blick auf Verantwortung und Führung.

Chinas Vorsprung: Geschwindigkeit schlägt Perfektion

Chinesische Hersteller haben gezeigt, wie marktorientierte Entwicklung heute funktioniert: schnell, nutzerzentriert und kompromisslos in der Umsetzung. Statt sich in ausufernden Planungsphasen zu verlieren, werden Produkte frühzeitig auf den Markt gebracht – oft noch nicht perfekt, aber funktional und lernbereit. Iteration ersetzt Perfektion, und genau darin liegt der Vorsprung. Während deutsche OEMs noch intern abstimmen, reagieren chinesische Unternehmen bereits auf Feedback echter Nutzer.

Geschwindigkeit wird dort nicht als Risiko, sondern als Wettbewerbsvorteil verstanden. Die Fähigkeit, innerhalb kürzester Zeit neue Funktionen auszurollen, Märkte zu testen und sich anzupassen, macht den entscheidenden Unterschied. Selbst Rückschläge werden genutzt, um daraus in Echtzeit zu lernen. Perfektion ist kein Ziel, sondern ein Prozess – und dieser beginnt nicht am Reißbrett, sondern im direkten Kontakt mit dem Markt.

Nutzerzentrierung ist kein Schlagwort, sondern Leitprinzip. Was zählt, ist nicht die Meinung der Entwickler, sondern das Verhalten der Anwender. Chinesische Unternehmen entwickeln Produkte mit dem Blick auf reale Nutzungsszenarien – oft digital, oft datenbasiert, fast immer dynamisch. Das bedeutet nicht, dass alles besser ist. Aber es zeigt, wie weit entfernt klassische OEMs von ihrer Zielgruppe agieren, wenn sie glauben, Qualität entstehe nur durch Planungstiefe.

Software ist kein Zusatz mehr, sondern das Herzstück jedes Produkts. Genau hier liegt ein zentraler Unterschied im Entwicklungsansatz. Während europäische Hersteller Software häufig als spätes Add-on betrachten, ist sie im chinesischen Modell integraler Bestandteil der Produktstrategie. Wer weiterhin glaubt, Hardware sei das Hauptprodukt, wird im digitalen Zeitalter schnell den Anschluss verlieren – nicht technisch, sondern strategisch.

Die große Lücke: Was deutsche OEMs übersehen

Trotz langjähriger Erfahrung, hoher Ingenieurskunst und etablierter Prozesse klafft eine wachsende Lücke zwischen Anspruch und Marktrealität. Deutsche OEMs übersehen zentrale Aspekte moderner Produktentwicklung, weil alte Denkstrukturen nach wie vor dominieren. Der Fokus liegt häufig auf technischer Machbarkeit – nicht auf tatsächlicher Relevanz. Dabei wäre es gerade jetzt notwendig, den Blick zu weiten und Entwicklung konsequent vom Markt her zu denken.

Typische blinde Flecken, die den Fortschritt bremsen:

  • Marktfernes Produktdenken: Entscheidungen werden oft auf Basis interner Meinungen und historischer Erfahrungswerte getroffen – statt auf Basis realer Kundenbedürfnisse.
  • Software als Nebenschauplatz: Digitale Funktionen werden zu spät integriert oder auf Drittanbieter ausgelagert – statt als strategischer Bestandteil des Produkts mitgedacht.
  • Getrennte Entwicklungsteams: Hardware- und Softwareentwicklung laufen häufig parallel, aber nicht integriert – das führt zu technischen Reibungsverlusten und verpassten Synergieeffekten.
  • Zu wenig echte Nutzerbeobachtung: Rückmeldungen kommen spät oder werden durch Hierarchien gefiltert – direkter Kontakt zwischen Entwicklung und Endkunde ist selten vorgesehen.
  • Führung ohne Entscheidungsfokus: Verantwortung wird verteilt, aber nicht konsequent übernommen – Entscheidungen dauern, Innovationen versanden.

Diese Lücken sind nicht technischer, sondern struktureller Natur. Sie entstehen nicht durch mangelndes Know-how, sondern durch fehlenden Perspektivwechsel. Wer sie schließt, schafft nicht nur bessere Produkte, sondern auch echte Zukunftsfähigkeit.

Was jetzt zählt: 3 strategische Impulse für deutsche Entscheider

Wer heute wettbewerbsfähig bleiben will, braucht mehr als Planungssicherheit und Prozessstabilität. Entscheider in deutschen OEMs stehen vor der Aufgabe, alte Denkmuster zu hinterfragen und neue Handlungsspielräume zu eröffnen. Es geht nicht darum, Bewährtes pauschal zu verwerfen – sondern darum, gezielt dort anzusetzen, wo Struktur zur Blockade geworden ist. Drei strategische Impulse helfen, diese Veränderung aktiv zu gestalten und Digitalisierung in wirksame Umsetzung zu überführen:

  • Geschwindigkeit ermöglichen statt kontrollieren: Statt Prozesse weiter abzusichern, sollten Entscheidungsspielräume vergrößert und Verantwortung dort angesiedelt werden, wo sie wirksam ist – nah an Produkt, Markt und Kundenerlebnis. Geschwindigkeit entsteht durch klare Ziele und konsequentes Handeln, nicht durch zusätzliche Freigabeschleifen.
  • Kundennähe neu verstehen: Wer heute erfolgreich entwickeln will, muss das Produkt aus Sicht der Nutzer denken – nicht aus der Perspektive technischer Möglichkeiten. Das bedeutet: direktes Feedback integrieren, reale Nutzungsszenarien beobachten und Entwicklungen kontinuierlich anpassen. Relevanz ersetzt Machbarkeit als Leitprinzip.
  • Technologische Offenheit vor interner Sicherheit: Starre Systeme, bevorzugte Anbieter oder etablierte Tools dürfen nicht länger das Denken bestimmen. Technologie muss Mittel zum Zweck sein, nicht Teil der Identität. Entscheider sollten bereit sein, alte Strukturen zu hinterfragen und mutig in neue Lösungsansätze zu investieren – selbst wenn diese nicht aus dem eigenen Haus kommen.

Diese Impulse setzen nicht auf Disruption um der Disruption willen, sondern auf gezielte Wirksamkeit. Wer sie beherzigt, schafft die Grundlage für echte Transformation – nicht als Projekt, sondern als neues Selbstverständnis.

Fazit

Der internationale Wettbewerb fordert ein Umdenken – nicht bei der Technik, sondern in der Haltung. Perfektion, Planung und Prozesskontrolle galten lange als deutsche Stärken, sind heute aber oft zu Bremsklötzen geworden. Wer sich zu sehr auf Absicherung verlässt, verpasst den Moment für echte Innovation. Chinesische Hersteller zeigen, wie Nutzerfokus, Geschwindigkeit und Integration von Software zum Standard werden. Es ist Zeit, diese Impulse ernst zu nehmen – nicht als Bedrohung, sondern als Chance. Wer schneller testet, offener denkt und klarer führt, wird auch künftig relevant bleiben.

Über den Autor 

René Schröder ist Geschäftsführer der RegSus Consulting GmbH. Als Berater, Kolumnist und mehrfacher Fachbuchautor unterstützt er Unternehmen dabei, digitale Transformation wirksam umzusetzen – durch klare Analyse, pragmatische Prozesse und technologische Klarheit. Sein Fokus liegt auf Produktentwicklung, Digitalisierung und Prozessoptimierung, insbesondere in Industrie und Mittelstand. 

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